Gehört und gesehen werden – YouTuber mit Behinderung rücken sich in den Fokus

Vlogs, Pranks, Challenges oder doch soziale Experimente: Auf YouTube kann man all das finden, oft auch vereint bei einem einzigen Account. Aber vollkommen egal, um welche Videoform es geht, mittlerweile gibt es eine große Vielfalt unter den YouTubern – darunter immer mehr Menschen mit Behinderung. In der Regel darf ein Video zur eigenen Erkrankung/Behinderung und einer FAQ-Runde zu Zuschauerfragen auf keinem Kanal fehlen. Doch die Vlogger bieten mehr.

Fakt ist, sie tragen dazu bei, dass Menschen mit Behinderung wahrgenommen werden, sie sind Vorbilder und machen mit ihren Videos auch anderen Menschen Mut.

Ob das der Kanal Normalo TV ist, der aufzeigt, was Menschen mit Behinderung zum Lachen und zum Weinen bringt oder was sie durchaus in der Lage sind zu leisten. Den beiden Potsdamern Udo Sist und Gerald Behnke geht es darum, Menschen mit Behinderung so zu zeigen wie sie sind. Aber natürlich mit einer Prise Humor.

Einen Beitrag zum Thema Inklusion möchte auch der Hamburger Erdin Ciplak leisten: Auf seinem Kanal BlindLife zeigt er wie sein Alltag als Mensch mit einem Sehrest von zwei Prozent aussieht. Dabei gibt der Elbestädter Auskunft darüber, welche (technischen) Hilfsmittel ihm beispielsweise helfen, sich an fremden Orten zu orientieren oder testet die Leitstreifen der Stadt. Mit seinen Vlogs möchte er Brücken bauen und Barrieren beseitigen. Und so geht es vielen seiner "Kollegen": Sie möchten gegen die Stigmatisierung vorgehen, die sie von anderen Menschen und/oder der Gesellschaft im Allgemeinen auferlegt bekommen.

Die Vorurteile, die Menschen ohne Behinderung über sie hatten, haben Darleen beispielsweise so sehr gestört, dass sie endlich damit aufräumen wollte. "Mich haben die vielen Vorurteile genervt. Obwohl ich mit meinem Leben total zufrieden bin, werde ich immer sofort bemitleidet. Da ich kein Mensch bin, der Dinge einfach so hinnimmt, habe ich eine Plattform gesucht, mit der ich viele Leute erreiche." So wurde ihr Kanal Behindert aber glücklich geboren. Dort erzählt sie in Vlogs regelmäßig Anekdoten aus ihrem Leben mit Dysmelie. "Ich habe meine Behinderung schon immer wie eine gute Freundin gesehen. Manchmal kann sie anstrengend sein, aber sie bereitet einem auch viele tolle Momente und Erinnerungen."

Also findet man auf ihrem Kanal Anekdoten von Supermarktgängen und Strandbesuchen mit Prothesen. Gleichzeitig veröffentlicht Darleen auf ihrem Kanal aber auch Infovideos zum Thema "Leben mit einer Behinderung". Das macht sie so gut, dass die 22-Jährige Anfang des Jahres sogar für ihren YouTube-Kanal ausgezeichnet wurde. Für ihr Video "Liebe Dysmelie / Ein offener Brief an meine Behinderung" bekam sie den Youlius-Award in der Kategorie Vlog. "Den Youlius bekommt man nicht, weil man die größte Community oder die meisten Likes hat, sondern weil eine Jury Potenzial in deinem Kanal sieht. Gerade weil meine Mitstreiter super stark waren, bin ich nun noch motivierter, an meinen Videos zu arbeiten und hoffentlich noch einige Vorurteile aus der Welt zu schaffen. Außerdem habe ich durch den Youlius viele tolle Leute kennengelernt."

Darleen hat dagegen ganz andere Erfahrungen gemacht, was Kommentare angeht: "Negatives Feedback bekomme ich eher selten. Ich habe oft das Gefühl, die Leute trauen sich nicht, mich zu kritisieren, weil ich nun einmal behindert bin. Das ist echt schade, denn konstruktive Kritik hilft immer noch am besten, sich zu verbessern." Für diese Art der Kritik ist auch Kübra neben dem positiven Feedback, das sie erhält, immer offen: "Ich frage beispielsweise immer wieder, was die Zuschauer noch von mir sehen wollen oder welche Themen sie interessieren." Aber natürlich gibt es für die YouTuberinnen vor allem Zuspruch: "Ich bekomme oft Nachrichten von anderen Menschen mit Behinderung, die mir erzählen, dass meine Videos ihnen Kraft geben. Das ist ein tolles Gefühl!", so Darleen. Auch Leeroy Matata weiß: "Die meisten Kommentare sind unheimlich motivierend und positiv."

Welche Reichweite und welche Dynamik ein elfminütiges Video haben kann, durfte der Bonner mit einer großen Fanbase erst kürzlich erfahren: "Ich habe kurz vor Weihnachten in einem Video mit obdachlosen Menschen gesprochen beziehungsweise sie einfach erzählen lassen. Das war sehr schockierend für mich zu hören, dass diese Leute täglich beleidigt, erniedrigt oder sogar verletzt werden. Dank des Videos hat sich aber auch die Familie von einem der Obdachlosen bei mir gemeldet, die ihn für verschollen oder gar tot gehalten hatte. Gemeinsam mit ihnen habe ich ihn dann gesucht und zum Glück auch gefunden. Das Wiedersehen war einer der schönsten Momente für mich überhaupt."

Diese Facette zeigt auch, welchen Einfluss soziale Medien allgemein und YouTube im Speziellen auf das heutige Leben haben. "Den persönlichen Kontakt kann man oft meiden, an YouTube, Facebook und Co kommt heute kaum noch jemand vorbei", so Darleen. Das hilft natürlich auch, um Vorurteile abzubauen und sich Gehör zu verschaffen. Dabei verstehen sich die jungen Videostars in der Regel aber gar nicht als Aktivisten. So sagt Kübra: "Kann ich/darf ich das von mir behaupten? Ich nutze meine eigenen Erfahrungen und persönlichen Ansichten, um auf das Leben von Menschen mit Behinderung aufmerksam zu machen. Hierbei betone ich immer, dass es nur um MEINE Perspektive geht und sie bitte nicht auf andere Menschen mit Behinderung übertragen werden sollen. Ich bin nur eine von vielen! Ich öffne quasi eine Tür und das, was daraus entsteht, ist jedem selbst überlassen. Was ich tue, ist sehr nah an mir selbst und ich versuche den Spagat zwischen mir und den Missständen für viele andere Menschen mit Behinderung zu schlagen. Ob mir das gelingt oder nicht, kann ich nicht beantworten. Aktivistin zu sein, bedeutet sehr viel Verantwortung zu tragen und in meiner Arbeit trage ich nur Verantwortung für mich selbst, was auch manchmal schon schwer genug ist! Vielleicht bin ich eine Zwischeninstanz."

Allen geht es darum, zu zeigen, dass sie ein ganz normales Leben führen. So sagt Leeroy Matata beispielsweise, dass jeder Mensch Stärken und Schwächen hat, egal, ob groß oder klein, im Rollstuhl oder nicht. "Wenn Probleme auftreten, dann meistens durch Unwissenheit und/oder Berührungsängste. Und genau an diesen Stellen kann man über soziale Medien wunderbar anknüpfen und die Menschen für die Probleme sensibilisieren." Dabei will der Rollstuhl-Basketballer aber gar nicht die Moralkeule schwingen und vornehmlich geht es ihm auf seinem Channel auch gar nicht darum. "Ich möchte Menschen unterhalten und wenn das klappt, habe ich schon sehr viele Schalter in den Köpfen vieler Menschen bewegt."

Wie Leeroy wollen auch andere nicht vornehmlich für mehr Toleranz und Teilhabe werben, sondern einfach lustige Videos produzieren. Und so findet man die üblichen Challenge- und Prank-Videos auch auf den Kanälen von Luca Kumm oder Welat Ekingen, der am Kanal PrankTV MS mitwirkt.

International erregte beispielsweise die Amerikanerin Christina Stephens, oder wie sie auf YouTube heißt: AmputeeOT, bereits 2013 Aufmerksamkeit, als sie sich in einem Video eine Beinprothese aus Lego baute und damit zu einem Internetstar wurde. Die gehörlose Ergotherapeutin betreibt ihren Kanal noch immer und füllt ihn mit allerhand Beiträgen zu Themen über Gehörlosigkeit in den USA, Gebärdensprache oder eben Prothesen und was man damit alles machen kann. Und wie auch unter den deutschen YouTubern verbreitet, all das mit viel Witz und auch ein wenig Selbstironie.

Zu Bekanntheit durch YouTube kam auch der kleinwüchsige Keenan Cahill mit seinen Lipdub-Videos von aktuellen Hits. Der Amerikaner performt vor der Kamera leidenschaftlich gern zu Songs von Katy Perry, Ariana Grande oder der DJ-Größe David Guetta. Auf seinem Channel hatte er bereits 50 Cent oder Jennifer Aniston zu Besuch. 

Eine andere Absicht verfolgt Robyn Lambird alias ATREXLIFE mit ihrem Channel: Die Australierin hat Zerebralparese, ist aber nicht nur als Wheelchair Racer sportlich unterwegs, sondern auch Model und vloggt auf ihrem Kanal über Mode und Lifestyle. Aber auch die Rechte von Menschen mit Behinderung sind immer wieder Thema auf ihrem Kanal.

Ob sie sich nun selbst als Aktivist verstehen oder einfach Menschen unterhalten möchten – sie alle haben durch die sozialen Medien die Möglichkeit, in direkte Interaktion mit ihren Followern zu treten und schaffen es dadurch, ein realistischeres Bild von Menschen mit Behinderung zu zeichnen. Dadurch tragen sie ihren Teil zur Inklusion bei. Diese Chance sieht Kübra ebenfalls als gegeben, sagt aber auch: "Man hört uns mehr als früher. Das ist ein guter Fortschritt, allerdings noch lange nicht genug. Dazu gehört in erster Linie vor dem Gesetz gleichberechtigt behandelt zu werden. Meine körperliche, geistige oder seelische Voraussetzung sollte hierbei beachtet werden und nicht zu meinem Nachteil ausgelegt werden. Dies ist in der UN-Behindertenrechtskonvention festgelegt. Leider sieht es in der Realität aber noch anders aus. Solange wir nicht gleichberechtigt behandelt werden, haben wir nicht die gleichen Chancen, uns zu verwirklichen, zum Beispiel in unserer Arbeit oder in unserem sozialen Leben. Das ist natürlich eine zusätzliche Barriere, um ein selbstbestimmtes, selbstständiges und selbstbewusstes Leben führen zu können."

Vielleicht sind es keine Aktivisten als solche, aber egal, welchen Kanal man sich ansieht, sie alle zeigen, dass an dem Vorurteil, dass Menschen mit Behinderung bemitleidet gehören, nichts dran ist. Sie alle versprühen Lebensfreude, Witz und Charme. Sie werden gesehen und gehört. Und das allein ist eine nicht zu unterschätzende Veränderung, die irgendwann vielleicht auch in der Gesellschaft nachhaltig Früchte trägt.